My Fair Lady

Hamburger Engelsaal


Wer meint, den Klassiker „My Fair Lady“ schon oft genug bestaunt zu haben, hat die Rechnung ohne den Engelsaal (Buchbearbeitung: Karl-Heinz Wellerdiek) in Hamburg gemacht. Dort erlebt das Publikum in der Inszenierung von Ulrich Schröder eine feinwitzige Variante. Annette Regnitter ist eine handfeste Eliza, die mit viel Energie die liebevollen Seiten der Blumenverkäuferin von der Straße zeigt. Der Engelsaal hat es geschafft, das Ensemble auf das unerlässliche Maß von fünf Darstellern zu reduzieren, ohne an der Geschichte selbst zu kratzen. Im Gegenteil: Die ausgesparten Figuren schaffen Raum für neue Akzente und eine Profilschärfung der Hauptfiguren wie Professor Higgens, aber auch Freddy. Durch den Verzicht auf die Figur des Oberst Pickering, der durch seinen Neffen Freddy vertreten wird, gewinnt die Beziehung zwischen dem selbstverliebten Professor und seinem eifrigen „Doktorsohn“ Freddy an Bedeutung und an Spannung. Die Nebenfigur des Freddy wird zur Hauptfigur aufgewertet und kann sich als solche entwickeln. Auch unproblematisch gerät der Umgang mit Freddy als Nebenbuhler von Prof. Higgens. Freddy entdeckt seine große Zuneigung zu Eliza auf dem Nachhauseweg vom Derby und möchte seine Träume vor der Tür lassen. Denn im Hause seines Doktorvaters muss er Eliza immer mit den Augen eines Doktoranden betrachten, vor der Tür aber hat er die Chance auf eine andere Sichtweise und sonnt sich dort in seinen Schwärmereien. Die Nebenbuhlerei bleibt dadurch ein Nebenschauplatz.

Philip Lüsebrink weiß die Rolle des aufstrebenden Adligen gut für sich zu nutzen und gibt dem Freddy Herzenswärme wie auch eine gute Gesangsstimme, während Prinzipal Karl-Heinz Wellerdiek als standfester Tenor einen eitlen und kantigen Professor gibt, der gerne bei den Mitmenschen aneckt und sich nicht im geringsten daran stört, so wie es die Vorlage auch verlangt. Gesanglich überaus und unstrittig rundum gelungen sind besonders die beiden Titel „Kann denn die Kinder keiner lehren…“ und „Kann eine Frau nicht sein wie ein Mann?“, die er auch mit der nötigen Entrüstung und dem Übergewicht des Egos interpretiert. Anja Majeski spielt humorvoll das Fräulein Pearce, und Alfred P. Doolittle wird durch Friedhelm Brill zu einem gemächlichen, aber dafür stimmgewaltigen Mann von Statur und auch großem Engagement. Die Regie bietet teilweise neue Komik, wenn zum Beispiel das Dreigespann mit Eliza voran -als didaktisches Mittel ein Buch auf dem Kopf balancierend - den Raum betritt, der überanstrengte Professor mit dem bekannten Füllbeutel auf der Stirn nachfolgt und der übermüdete Freddy mit einer aufgeschlagenen Zeitung auf dem Haupt hinterhertrottet und in Elizas Duktus redend das Team der Erschöpften vollzählig macht. Eine Aufwertung des Stückes ist die Verlegung der Handlung nach Hamburg. Elizas derber Dialekt („Geh’ mal, wo du wohnst!“) ist eine fantasievolle Proletenkunstsprache, die Prof. Higgens lokalen Brennpunkten oder Vierteln zuordnet, welche Hamburgern bestens bekannt sind. Dass Eliza einen wenig Hamburgischen Zunamen trägt, wird im Engelsaal verblüffend einfach gelöst. Die Vorfahren von Eliza kommen demnach aus Schottland, und Alfred P. Doolittle trägt stets ein Foto vom Landsitz in Schottland mit sich, den allerdings die Wikinger in eine Ruine verwandelt haben. Auch ist Elizas Vater kein Müllkutscher, sondern Kedelklopper in Hamburgischer Tracht. Das Derby wird als Pendant zu Ascort genutzt, und der Diplomatenball wird zu einem Empfang im Hamburger Rathaus. Den beengten Raum der kleinen Bühne weiß Ulrich Schröder für das Bühnenbild voll auszunutzen. Eine Drehbühne ermöglicht sozusagen im Handumdrehen den Wechsel vom unordentlichen Arbeitszimmer von Prof. Higgens zur Straßenansicht, wahlweise durch den Einsatz von Klappläden auch zur Loge beim Pferderennen. Der Wiedererkennungswert der Geschichte ist für das Hamburger Stammpublikum hervorzuheben. Klar ist für das treue Publikum auch von Vornherein, dass die Musik nicht vom Band kommt, sondern unter der Leitung von Herbert Kauschka am Piano mit Unterstützung von Violine und Bass aus der Orchesterecke im Saal. „My Fair Lady“ ist im Engelsaal also ein vollkommen veredelter Musik- und Musicalgenuss, der an Zusatzstoffen spart und nicht am Geschmack.